Lotte hat einen Nagel gefressen ...
Operation am offenen Bauch – in unserem Kuhstall
Im Jahr 1961 wurde unsere Scheune erweitert und bekam ein neues Ziegeldach mit weit in den Hof hineinragendem Vordach. Ob den Handwerkern beim Festnageln der Dachlatten ein Nagel aus der Hand und in das darunter liegende Heu gefallen ist, ist nicht ueberliefert. Ausgerechnet unsere beste Milchkuh Lotte hat in dieser Zeit einen Nagel gefressen. Ihr hat daraufhin nichts mehr geschmeckt, sie hat viel abgenommen und wurde richtig apathisch. Unser Tierarzt diagnostizierte einen Fremdkoerper im Pansen.
Diverse Versuche mit Medikamenten oder Hoeherstellen der Vorderbeine um etwa 30 Zentimeter halfen nichts. Er sah nur zwei Optionen: schlachten oder operieren. Mein Vater entschied sich fuers Operieren. Es war aber Juli, Erntezeit, und jede verfuegbare Hand wurde dringend auf dem Feld gebraucht. Andererseits benoetigte auch der Tierarzt dringend Unterstuetzung.
Also wurde ich als Assistent ausgeguckt.
Ich hatte keine Ahnung, was da auf mich zukommen wuerde. Bei einer Operation sollte ich helfen, mit 12 Jahren? Fuer Seife und viel warmes Wasser sollte ich sorgen und den Tierarzt unterstuetzen. Aber was heisst das, fragte ich mich? Er muss ja den Bauch von Lotte aufschneiden und mit seiner Hand im Pansen nach dem Nagel suchen.
Ich wurde noch misstrauischer, nachdem sich der Tierarzt Gummistiefel angezogen und eine grosse, weisse, vom Hals bis zu den Knoecheln reichende, Plastikschuerze umgebunden hatte. Ob es sehr blutig werden wird?
Es war ein heisser Sommertag. Hell war es im Stall und rund um Lotte hatten wir viel Saegemehl verteilt. Alle Kuehe waren unruhig. Sie ahnten wohl, dass gerade etwas Aussergewoehnliches vor sich ging. Unsere Patientin hingegen wurde nach der ersten riesigen intravenoesen Spritze ganz ruhig und blieb auf allen Vieren fest stehen. "Gut", meinte der Tierarzt, "dann koennen wir ja loslegen." Er hat die linke Bauchseite von Lotte grossflaechig gewaschen und rasiert und ein paar lokale Betaeubungsspritzen gesetzt.
Waehrend die zu wirken begannen, hat er auf einem kleinen Tisch, in Reichweite der rasierten Bauchseite, diverse Medikamente und Instrumente aufgereiht und mit einem Tuch bedeckt. Die Fliegen im Stall sollten sie wohl nicht zu sehr verunreinigen. Auch den Koerper der Kuh hat er mit einem grossen gruenen OP-Tuch abgedeckt, an dem nur die rasierte Bauchstelle durch ein Loch frei blieb. Das Ganze sah irgendwie surreal aus.
Dann nahm er das Skalpell und machte einen etwa 15 Zentimeter langen vertikalen Schnitt. Dabei sprach er staendig mit mir. Er erklaerte, dass er vorsichtig verschiedene Schichten durchtrennen muss. Er sprach von der Haut und dem Fettgewebe, dem Bauchfell und schliesslich dem Pansen. Ich schaute interessiert zu, gab ihm auf Aufforderung frische Tupfer und war ueberrascht, wie wenig es blutete. Mit Klammern zog er die frische Oeffnung etwas auseinander.
Gelegentlich fragte mich der Arzt, wie es mir geht. Er schloss wohl nicht aus, dass mir ob des offenen Bauches unserer Lotte schwindelig werden koennte. Aber ich hielt tapfer durch. Mit den Worten "Jetzt kommt der entscheidende Teil“ stuelpte er sich einen bis unter die Achsel reichenden Plastikhandschuh über den rechten Arm und griff durch die Bauchoeffnung in den Pansen. Zuerst schaufelte er etwas von dem uebel riechenden Bauchinhalt heraus auf den tief mit Saegemehl bestreuten Boden, um dann aufs Neue im Pansen zu stochern und gezielt nach dem Nagel zu suchen.
Schnell wurde er fuendig und zeigte mir den blitzblanken Stahlnagel mit den Worten: "Da haben wir ihn. Der Uebeltaeter lag vorne im Pansen und zeigte Richtung Herzbeutel." Das sei lebensgefaehrlich gewesen. Ein Durchstechen haette den sicheren Tod von Lotte bedeutet. Sichtlich erleichtert naehte er daraufhin die verschiedenen Hautschichten der Reihe nach wieder zusammen. Waehrend ich mit weiteren frischen Tupfern assistierte fragte er mich, ob ich nicht Tierarzt werden moechte.
"Eher nicht", antwortete ich und blickte wortlos auf die Sauerei unter Lottes Bauch. Vom Panseninhalt ueberlagert fanden sich dort neben Bauch- Abwaschwasser und blutgetraenktem Saegemehl abrasierte Haare, blutige Tupfer und ein paar Einweghandschuhe.
Tierarzt? Nee, eher nicht.